Der (erste) Vivianus-Brief von 1573

Dem Aufsatz ist eine Fülle von Bildern / Skizzen beigegeben. Die größeren werden zuerst einmal miniaturisiert dargestellt. Jede Miniatur ist mit dem Original verlinkt.
1Die Struktur des typus universitatis

Die Rekonstruktion und Vervollständigung des Typus von 1573 habe ich im Jahre 1996 unternommen, da mir beim Studium der einschlägigen Veröffentlichungen nach 1994  klar wurde, 

  • daß das Weltsymbol Gerhard Mercators in seiner graphischen Struktur keineswegs korrekt in die Literatur Eingang gefunden hat; 
    • die Berichtigungen, die ich am fehlerhaft überlieferten Symbol vorgenommen habe, erläutere ich in der Editions- bzw. in der Fehlergeschichte , 
  • daß seine Inhalte nirgendwo in rechter Weise mit den Kosmographischen Gedanken von 1593ff in Verbindung gebracht worden sind; 
  • daß bis auf den Tag 
    • weder die historischen Quellen und Bezüge des Weltsymbols freigelegt 
    • noch ihre Funktion für die metaphysisch-kosmologisch-theologischen Auffassungen Gerhard Mercators Berücksichtigung gefunden haben.
Die folgende Grafik enthält 
  • einerseits alle notwendigen Korrekturen (an den seit 1908 veröffentlichten  Typus-Bildern), 
  • andererseits aber auch zur Verdeutlichung der trinitarischen Auffassung Gerhard Mercators das "immense", die irdisch- wie die himmlisch-kosmische Welt umfassende Symbol der christlichen Trintät von Gott Vater, Gott Sohn und  Gott Heiliger Geist, wie es von Gerhard Mercator wohl noch der Sphärensymbolik hinzugefügt worden wäre, hätte es noch Platz auf dem typus-Blatt gefunden.
Bevor ich in die eigentlichen Untersuchungen eintrete, lege ich zuerst einmal die textuelle Struktur des typus unversitatis, des Weltsymbols Gerhard Mercators,  in 10 Punkten frei (im typus-Bild grau unterlegt). Klicken Sie die einzelnen Ziffern an, deren "Umfeld" Sie kennenlernen möchten.




typus


Vergleiche den typus des Ficinus.


Erläuterungen 1 - 10

1 Die Umschrift des typus lautet: Diesen Kreis umfaßt und schließt ein unermeßlich großes Dreieck ein: Gott, die Macht des Vaters, die Weisheit des Sohnes und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes.

Im metaphysischen Bilde des typus ist Gottes Ort - der Thron Gottes - außerhalb aller Sphären, über allen Himmeln - wie das Alte / Neue Testament immer wieder zu beschreiben weiß: Ps 103,19; Weish 9,10; Jes 14,13; 66,1; Sir 40,3; Mt 5,34,35; Apg 7,49; Offb 1,4; 4,2,5 [Lichter = Blitze].
Der Thron Gottes umfaßt in seiner Größe - wie Gott selbst - das "wohlgerundete All" der Griechen, den Kosmos, totum mundum. In der Allegorie des typus heißt das: der alles - außer die Trinität selbst - umspannende Kreis ist gewissermaßen der Inkreis, des ihn umfassenden gleichseitigen göttlichen Dreiecks, des menschlichen Schemabildes der (christlichen) DreiEinigkeit mit der Macht (potentia) des Vaters, der Weisheit (sapientia) des Sohnes und der Wirksamkeit (efficacia) des Heiligen Geistes.
In meiner Rekonstruktion ist der typus Gerhard Mercators gewissermaßen ein christliches mandala: imago mundi - ein Kreis mit Kreisen - und Pantheon zugleich - symbolisiert als gleichseitiges Dreieck.

Ficinus Theol.Platon. X,7 formuliert die efficacia des DreiEinen mit hermetischen Worten:

... divinus influxus, ex Deo manans, per coelos penetrans, descendens per elementa, in inferiorem desinens.
... das göttliche Verströmen, es fließt beständig aus Gott [ohne zu versiegen], es durchdringt beständig die Himmel hinuntersteigend durch die Elemente und endet immer zuunterst [im Kosmos, d.i.: auf der Erde].
Die Trinität selbst - für Ficinus (gemäß Plotinus) das "unaussprechliche Eine" (´'En) - ist uniformis & omniformis, actus, nicht motus: immobilis.

Im Dialogus inter Deus et animam theologus (610) läßt Ficinus Gott sagen:

Coelum et terram ego impleo et penetro et contineo. 
Impleo, non impleor, quia ipsa sum plenitudo. 
Penetro, non pentror, quia ipsa sum penetrandi potestas. 
Contineo, non contineor, quia ipsa sum continendi facultas.
Himmel und Erde erfülle, durchdringe und schließe ich ein. 
Ich erfülle, ohne erfüllt zu werden, denn ich selbst bin die Fülle.
Ich durchdringe, ohne durchdrungen zu werden, denn ich selbst bin die Kraft alles Durchdringens.
Ich grenze ein, ohne selbst umgrenzt zu werden, denn ich bin das Vermögen des Einbeschließens.

2 Das Empyreum - der Feuerhimmel - ist der Sitz der Engel und der Seligen: es ist der Ort der wahren Glückseligkeit (vera beatitudo), die ewigwährend und unveränderlich ist: [in] Aeterna[m]. 
Es ist - hermetisch-kabbalistisch betrachtet - der Ort der mens mundana (NouV , Nus), des intellectus divinus sive angelicus (Ficinus), gleich unzerstörbar, wenn auch nicht uniform, sondern sich in der Vielfältigkeit vollziehend: die Engel (die Intelligenzen) existieren / erscheinen gewissermaßen als die Prototypen (Ideen, Urbilder) der niederen Existenzen. Ihre Einwirkung als "mithelfende Ursachen" auf das Niedere erfolgt symbolisch durch den "pythagoräischen Korridor" hindurch. [5]. 
Für Mercator erstreckt sich die mens vornehmlich auf die Sphäre der drei äußeren Planeten Saturn, Jupiter und Mars [3]. und die sie umschließende Fixsternsphäre [8].


3 Die drei äußersten = obersten Planeten  haben offenbar gleichartige Aufgaben wahrzunehmen, da sie in gleicher Weise weit vom "Nabel der Welt" "lokalisiert" = entfernt sind und nahezu gleiche Bewegungsformen besitzen. Sie gehören daher ein und derselben Sphäre an und üben sehr wahrscheinlich gleichartige Wirkungen aus:
Prius [ordo] est trium superiorem, quos propter localem societatem et similes admodum motus, similes admodum actiones habere verisimile est.
In ihrer Gesamtheit bilden sie einerseits die trinitarische Struktur des Geistes nach Augustinus ab:

MENS

  • Wollen   (= Liebe/Streben zum Guten: storgestorgh) + 
  • Fühlen   (= affectus) + 
  • Denken (= ratio
  • Mars beherrscht dabei das Streben zum Guten, 
  • Jupiter überwacht die Affekte und 

  • Saturn leitet den Verstand.
In der Struktur der Trias von MENS - ANIMA - SPIRITUS bringt das Weltsymbol zugleich die kabbalistisch-spirituelle Struktur der Welt gemäß Hermes Trismegistos, Marsilius Ficinus und Pico della Mirandola zum Ausdruck.

Die anima mundana (Yuc´h) umfaßt für Mercator die Sphäre der Sonne mit ihren Trabanten Merkur und Venus [4]. Für Ficinus | Mercator ist sie gleich unzerstörbar, aber nicht mehr in ewiger Ruhe, sondern in ewiger Bewegung wie die Sphären der äußeren Planeten und der Fixsterne.

Der spiritus mundanus (nodus, oder vinculum) der Kabbala stellt sich bei Mercator als die Vermittlung der himmlichen mit der irdischen Welt durch die Wirksamkeit des Mondes dar [6].

Der typus macht daher mit aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, daß er nicht als eine astronomisch relevante Darstellung der Welt genommen sein will: 
    • Nur schwach deutet sich z.B. das kosmische Nacheinander von Mars, Jupiter und Saturn an, und auch die dargestellten Dimensionen der Sternsphären der ersten, zweiten und dritten Ordnung - nach Gerhard Mercator - sind astronomisch völlig irrelevant. Ein Bezug zur astronomischen Weltsicht des - späten - Tycho Brahe ist von diesem theologisch-kosmologischen Bild des Weltalls nicht herstellbar. 
    • In einer Umkehrung einer Anmerkung von Mästlin in seiner Einleitung in die Revolutionen des Copernicus könnte man sagen: Gerhard Mercator schrieb seine Albumblätter nicht als Astronom sondern als Metaphysiker


4 Die Sonne ist die alles belebende Mitte des planetarischen Alls, ihre Funktion ist die vivificatio, die Allbelebung. 
  • Tihon, der die beiden Albumblätter erstmals 1908 edierte, schrieb fälschlich virrificatio. Averdunk, der den Lichtdruck Tihons kommentarlos nachdruckte, berichtigte den Fehldruck kommentarlos zu "vivificatio". R.Vermijs emendatio führte 1994 zu "virificatio". (Vergleiche Die Fehler


Gerhard Mercator kennt die Sonnenmetaphysik des Altertums - Erläuterungen folgen in der Abhandlung - und er weiß, daß spätestens seit Cicero und Vitruv die später so genannte "ägyptische Hypothese" mit dieser Metaphysik astronomisch einhergeht. Er ordnet daher den Trabanten der Sonne, Merkur und Venus, Funktionen der Sonnensphäre zu: Die Venus übernimmt gemäß der Verschwisterung von neuplatonischer Metaphysik und jüdischer Kabbala (Ficinus/Mirandola: Hermes Trismegistos) die Aufgabe der foecunditas, indem sie die Fruchtbarkeit der lebenden Wesen unterstützt; der Merkurübernimmt die Aufgabe der activitas, indem er dem aktiven irdischen Handeln und Tun von Mensch und Tier seine Unterstützung zukommen läßt. 
.
Sonne, Merkur und Venus beherrschen insgesamt den Bereich des Vitalen, unterstützen sowohl die Aktivitäten der lebendig-machenden Seele als auch die Möglichkeiten des körperlichen Ortswechsels: 

  • Secundus ordo est Solis, Mercurii et Veneris, quos constat [!] simul uno modio motu moveri et perpetuo se mutue comitari. ...,
  • Sonne, Merkur und Venus gehören der zweiten kosmischen Sphäre an, und von ihnen weiß [!] man | steht fest [!], daß sie auf eine einzige - d.i. gleiche - Weise ihre Bewegung vollziehen und sich ständig wechselseitig begleiten.
Von Merkur und Venus als den "Begleitern" = comites der Sonne ist bei den Lateinern spätestens bei Cicero die Rede. 



5 Das Y ist der "pythagoräische Buchstabe", d.i. derjenige Buchstabe der "heiligen Philosophie" des Pythagoras - in der Überlieferung der "heiligen Philosophie" vermischen sich die Person Pythagoras mit der ihm folgenden "pythagoräische Schule" - , der - hier - die substantielle - harmonische - Vereinigung ( I ) der beiden - konträren - Komponenten ( \ / = V) darstellt, aus denen der - hermetisch: männlich-weibliche=androgyne - Mensch besteht, insofern er genau so am himmlisch-Ewigen Anteil hat wie am elementar-Irdischen, - in der Sprache der Kategorien des Pythagoras (von denen uns Aristoteles Mitteilung macht) von Begrenzt und Unbegrenzt (1) und Gut und Böse (9) stellt das Y ein Symbol der Entstehung der Dinge aus den Gegensätzen dar. Nach Philo dem Juden ist es vielleicht das Siegel, das der schöpfende Gott im Ur-Sprung dem formlosen Chaos aufgedrückt hat.
 
Ohne Zweifel ist das Y sein - des Pythagoras - Buchstabe: Mit 'HYGIAINEIN!' - wie das Wort ´ugiainein (gesund leben) zur Zeit des Pythagoras geschrieben wurde - begrüßten sich "die Pythagoräer", und man meinte damit nicht nur die Gesundheit des Körpers ('Gesundheit!'), sondern auch die des Geistes. 


Für Gerhard Mercator bringt der "Korridor" - aus dem "Feuerhimmel" der quinta essentia in den "Bodensatz der Welt" (materiafex mundi) hineinführend - im typus die Sympathie des Oberen für das Untere augenfällig zum Ausdruck: Aus dem Himmel der Engel stammen - typisch scholastischer Tradition folgend - die mithelfenden Zweitursachen der irdischen Formen der Existenz.
 

Auf die "wunderbare Philosophie" des Pythagoras kommt Gerhard Mercator in den Kosmographischen Gedanken I.2 zu sprechen: der Gnostiker Valentinus hat sie - für Gerhard Mercator offenbar ?unglücklicherweise - in sein Evangelium der Wahrheit "hinein-vermischt". 
Die Elemente der Philosophie des Y, das in der späteren Lehre des Hermetismus eine bedeutende Rolle gespielt hat, hat Gerhard Mercator mindestens bei Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und bei seinem Freund John Dee vorgefunden.

Interessant ist, daß der pythagoräische Korridor in zwei Loxodromen, den Kurven des Globus von 1541 (und - rektifiziert - der Weltkarte von 1569), ausläuft.



6 Der Mond hat in seiner erdnächsten Sphäre die Aufgabe, die Kräfte der oberen Welt - der Welt "über dem Mond" - in seine feuchte und bewegliche, gleichsam zum Leben und zur (örtlichen Fort-) Bewegung geeignete, dichtere Substanz [als die der Sterne] aufzunehmen und sie in die Körper - "unter dem Monde" - einfließen zu lassen, um sie auf diese Weise mit den notwendigen oberen Fähigkeiten auszustatten. 
  • Tertius ordo est solius lunae quae omnes superiorum virtutes in humiditate tamquam solidiore substantia mobili tamen et vitae motuique locali idonea figens veluti colligens corporibus infundit eaque omni necessaria superna virtute irrigat.
Gerhard Mercator übernimmt damit Auffassungen, die Ptolemäus in seinem Vierbuch über die Astrologie vertritt: 
  • Der Mond scheint ebenso [wie die Sonne] seinen Einfluß auf alles Erdhafte geltend zu machen, da fast alles Beseelte und Unbeseelte die Kraft des Mondes und seine Wirkung zu empfinden vermag.
Er wirkt wie ein Pfropfreis: insitio nennt Gerhard Mercator diese spezifische Eigenschaft des Mondes. 
  • Die Wirkungen des Mondes sind [dabei] offensichtlichere [als die der anderen, weiter entfernten Gestirne] und kehren häufiger wieder ..., wobei insbesondere der Mond mit der Feuchtigkeit in Verbindung gebracht wird: Der Mond zeichnet sich durch seine Eigenschaft zu feuchten aus, da er sich nahe der Erde aufhält und der Nachbar feuchter Dünste und Nebel ist.
Irrigatio heißt es im typus
  • Ganz offensichtlich beeinflußt er dieser Richtung hin Körper, macht sie weich und führt sie meistens in Fäulnis über. In einem gewissen Maße wärmt er auch, da er von der Sonne sein Licht empfängt.

7 Zuerst schuf Gott das Chaos aus dem Nichts. Das Chaos ist das erste materielle Etwas, aus dem sich kraft der von Gott in diese "erste Materie" hineingelegten Naturgesetze alles entwickelt:

Es heißt in den Kosmographischen Gedanken II.4:

  • Wir ziehen also den Schluß, daß das Chaos die Urmaterie aller Dinge gewesen ist, die in ihrem Wesen den Keim aller Qualitäten und Formen hatte, d.h., eine einzige, einfache und kunstlose Natur, die auf so viele Arten von Qualitäten und Formen gebracht und verteilt werden konnte, wie sie nun in der gesamten Natur vorhanden sind ... Es ist für alles gleichsam die Mutter.
Gerhard Mercators "erste Materie" ist also in keinem Fall mit der materia prima des Aristoteles und der seiner Physik folgenden scholastischen Philosophen zu verwechseln. Das "prima" Gerhard Mercators ist kosmologisch-strukturaler Natur, nicht aber metaphysisch(ontologisch)-unzeitliche Formbeziehung. Er stimmt darin mit Johannes Duns Skotus (-1308) überein, der in seiner Untersuchung Über den Ursprung der Dinge - De rerum principio quaest. 8 art.4 Nr. 24, dafür hält ..., quod in omnibus creatis per se subsistentibus, tam corporalibus quam spiritualisbus, sit materia [teneo], daß also das, was sich in allem Geschöpflichen, ob körperlicher oder geistiger Natur, als das Zugrundeliegende erweist, die Materie ist. Sie tritt als incommunicabiliter per se esse nicht als positives Merkmal zur Existenz der Dinge hinzu, sondern meint die allein die Negation von Inhärenz und Abhängigkeit (ultra existentiam nihil addit nisi negationem duplicis dependentiae (In lib.III sent. quaestio 6, art.1, Nr. 2).
Bei Aristoteles bezeichnet "materia" weniger etwas Stoffliches als vielmehr so etwas wie ein "Programm", nämlich die Aufgabe, Gegenständliches in seinem Werden und Entstehen zu erforschen im Hinblick auf Form, Bewegungsursache und Ziel. 
  • Für seinen Materiebegriff gilt, daß er ausschließlich als Relation zwischen Gegenständen zu verstehen ist: a ist Materie von b. 
Seine "erste Materie" bezeichnet Gerhard Mercator im typus als "den Bodensatz oder die Hefe des Weltalls" (materiafex mundi), - in den Kosmographischen Gedanken später als das Chaos, woraus  sich alles entwickelt hat. "Materia prima" ist ihm der urgeschöpfliche Stoff, der aller formbesitzenden Existenz als Grundstoff - als strukturelles Element - geschöpflich voraufliegt und - wie bei den "Alten Physikern" - den Stoikern - als ein einheitliches Ganze sowohl ein aktives als auch ein passives Prinzip (arch) in sich birgt. Als den passiven Teil interpretiert Gerhard Mercator die ´ulh (hyle) der Stoiker, als den aktiven Teil den "luft- und feuerartigen Hauch", das pneuma, das die prwth ´ulh völlig durchsetzt.

Ficinus schreibt in seinem Kommentar zu Plotinus: Enneade II.4,16:

Materie ist non simpliter quasi nihilum, sed extrema ad primum ens oppositio ... Proinde, cum acceptis bonis, id est formis, adhuc restet informis ...
Und in seinem Kommentar zu Dionysius Areopagita drückt er die Auffassung Mercators wie folgt aus:
Die Materie ist weder etwas Böses noch etwas spezifisch Gutes, sie ist [einfachhin] etwas Notwendiges.
Materia neque malum est, neque proprium bonum, sed aliquid necessarium.


Im Gegensatz zu Gerhard Mercator gibt Thomas von Aquin z.B. der Frage, ob den Himmelssphären die gleiche Materie wie den körperhaften Gegenständen - ob beiden also eine einzige formlose Materie - zukomme, die Antwort: Nein, höchstens aus Gründen der Analogie, während der arabische Philosoph Averroes sogar nur von einer Äquivokation (ein Name bezeichnet wohlunterscheidbare Dinge in mehrdeutigem Gebrauch) sprechen wollte: 

  • Non est una materia omnium corporum corruptibilium (der zerstörbaren körperlichen Dinge) et incorruktibilium (der unzerstörbaren körperlichen Dinge), nisi secundum analogiam. (Summa theologica I, q.66 a.2)
Zu dem folgenden Kosmographischen Gedanken II.7 könnte sich also Thomas nie verstehen: 
  • So schreitet die Schöpfung voran: Der Schöpfung folgt die Tätigkeit der Natur auf dem Fuß, und beide wirken dann gemeinsam bei den übrigen Werken Gottes.
Vermutlich würde Thomas von Aquin Gerhard Mercators materia prima als materia signata, als "bezeichnete Materie", d.i. als Materie unter dem Gesichtspunkt in ihr verborgener Tendenzen zur Bestimmtheit einer individuellen Existenz identifizieren, als materia sub determinatis dimensionibus

Die Erde umschließt das Nichts, aus dem Gott alles schuf. In ihr "kondensieren" die Elementaria, deren Existenzform dann das Leben in seiner Beweglichkeit ist. 

    In ähnlicher Weise drückte sich der große Paracelsus aus, der noch in der tagtäglichen Nahrungsaufnahme eine Anverwandlung und Aufnahme der kosmischen Elementaria durch den aus diesen Elementen zusammengesetzten Menschen sah. (Wir kommen in der Abhandlung ASTROLOGIE ausführlicher darauf zu sprechen.)
Unter allem sich "von selbst Bewegendem" ist der Mensch das vollkommenste Wesen. 

Im Hinblick auf den "aktiven" Einfluß des Himmlischen (Actio) ist das Irdische durch das sich hingebende Aufnehmen und schlichte Vernehmen (passio) dieser Kräfte definiert. 

Diese Deutung und Stellung des Nichts = Nichtseienden verdankt Gerhard Mercator hier wie in den "abschließenden“ Kosmographischen Gedanken seiner kosmologischen Interpretation augustinischer Texte:

    "Wie man nämlich von dem Eigenschaftswort "weise" das Hauptwort "Weisheit" ableitet, so von dem Zeitwort 'sein' oder 'wesen' das Wort 'Wesenheit' [essentia], ein freilich neues Wort, das die alten Lateiner noch nicht kannten, das aber zu unseren Zeit in Brauch ekommen ist, um das griechische 'Usia' [ousia] wiederzugeben - denn davon ist Wesenheit die wörtliche Übersetzung. So ist denn dem Wesen, das zuhöchst ist und dessen Schöpfungsmacht alles, was ist, das Sein verdankt, kein Wesen entgegengesetzt, sondern nur das Nichtseiende. Denn dem, was ist, steht das Nichtsein gegenüber. Deshalb also ist Gott, nämlich der höchsten Wesenheit und dem Urheber aller Wesen, die es irgend gibt, keine Wesenheit entgegengesetzt. - nur das Nichts."
Nach Gerhard Mercator unterliegt es keinem Zweifel, daß es Spuren des überhimmlischen Gewässers - die letzte Verfeinerung der Chaosmaterie in ihrer Evolution - in dieser unteren Welt gibt:
    In diesem - unteren - Teil der Welt gibt es bis heute Reste jener Materie, aus der die himmlischen und überhimmlischen Dinge erschaffen sind, so daß eine natürliche Zuneigung und Sympathie seitens der oberen Welt zur unteren und Respekt und Sehnsucht seitens der unteren Welt nach der oberen vorhanden ist. Von den letzteren hängt auch die Neigung der oberen Dinge zu den unteren wie ihre Mitwirkung bei den unteren ab.
    Kosmographische Gedanken II.17.


Über das Chaos und die "erste Materie" sind unbedingt die Kapitel II.3-5 der Kosmographischen Gedanken nachzulesen.



8 Der Himmel (coelum) und was ihm alles angehört: die Himmlischen Dinge (coelestia) umgrenzen die Erde bis zum Fixsternhimmel als dasjenige, das nicht der Unveränderlichkeit des Ewigen zugehört. Dieses Himmlische ist nur als bzw. im Übergang zu begreifen: 
  • transitoria haec sunt omnia coelestia.
Der "wahre" Himmel ist der Ort der unveränderlichen wahren Glückseligkeit (vera beatitudo), der Feuerhimmel, das coelum empyreum, der Ort der Engel und der Glückseligen. 

Saturn, Jupiter und Mars beeinflussen den Geist (mens), die drei-einheitliche Struktur der imago Dei, die Quelle und Substanz der Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen, dem splendor divinae bonitatis, der förmlich der Abglanz der göttlichen Güte ist. 

Die Sonne und ihre beiden Trabanten beherrschen das zwischen der ersten und der dritten Ordnung der Gestirne liegende Reich der kosmischen Welt-Seele (anima). Diese durchwebt den gesamten Kosmos und macht damit die - für die hermetische Philosophie der Renaissance so unendlich wichtige - Analogie zwischen dem Makrokosmos (Welt) und dem Mikrokosmos (Mensch) möglich. Der lebendig-machende Hauch Gottes (spiritus), dessen irdischen Ort das menschliche Herz ist, dessen kosmischer Ort in der Sphäre des Mondes zu suchen ist, ist damit funktional wohl unterschieden von der imago Dei, der Gott-ähnlich-machenden Seele (mens) im Menschen, deren Kausalität wir in den Kosmographischen Gedanken kennenlernen. 

Die himmlischen Dinge oberhalb der Elementaria bis zum Fixsternhimmel sind für Gerhard Mercator sämtlich vergängliche (corruptibilia: Thomas von Aquin) Dinge.

Und schon Basilius der Große zieht aus dem Im Anfang schuf Gott - womit der gotterleuchtete Unterricht [durch Moses] beginnt - den Schluß, daß darin die Lehre von der Endlichkeit und Wandelbarkeit der Welt vorherverkündigt ist: 

So darfst du dich auch nicht deshalb, weil die im Kreise sich bewegenden Dinge auf sich selbst zurücklenken und ihre gleichmäßige Bewegung durch keinen Stillstand unterbrochen wird, dem Irrtum hingeben, die Welt sei ohne Anfang und ohne Ende. 'Denn die Gestalt dieser Welt vergeht' [1 Kor 7,31], und  'Himmel und Erde werden vergehen.' [Mth 24,25].

(Sic) transit gloria mundi: 
der Ruhm / der Glanz dieser Welt ist vergänglich.

Über den Feuerhimmel (und die incorruptibila) lese man das betreffende Kapitel  der Kosmographischen Gedanken nach.

9 Im Schema des gleichseitigen Dreiecks, das ich dem typus beigefügt habe, dem Symbol der DreiEinigkeit als der Fundamentalrelation im Gottesbegriff der Christen ist GottVater - "oben", "zuhöchst", "überall" und alles umfassend: 
  • Omne bonum desuper est descendens a patre limunum et fonte omnis boni.

  • Alles Gute kommt von Oben herab; es steigt hernieder vom Vater allen Lichtes und Quell alles Guten.
.
In seiner Schrift Über die beiden Hierarchien 1,1 sagt Dionysius Pseudo-Areopagitus
Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, indem es vom Vater der Lichter herabsteigt.
Vgl. auch Jak 1,17: 
Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, vom Vater der Lichter, bei dem kein Wechsel ist oder ein Schatten von Veränderung.
Auf diesen Text bezieht sich offenbar auch die Inschrift Transitoria haec sunt omnia  coelestia, die in die Sphären unterhalb des Empyreums eingetragen ist: 
Alle diese himmlischen Dinge werden vergehen. 
Sie ist womöglich - ?offenbar - dem 90. Sermon des hl. Augustinus entnommen (Stichwort transitoria). Der restliche - oberhalb des Fixsternhimmels gelegene - Himmel des "überhimmlischen Gewässers“ ist dagegen unvergänglich, ewig.

Gerhard Mercator macht seine schöpfungsoptimistischen Aussagen nicht erst am Ende seines Lebens, spätestens 1573 - in Wahrheit vermutlich sehr viel früher, aber mit Gewißheit erst nach 1563 - ist seine Ontologie manifest: 

Das Seiende und das Gute (in der Schöpfung) sind ein und dasselbe. 
Ens et bonum convertuntur, das Seiende und das Gute können ausgetauscht werden, sagt Thomas von Aquin -  und mit ihm das gesamte Mittelalter, - mit ihm Gerhard Mercator
Aber nicht erst der engelgleiche Lehrer Thomas lehrt ihn dies, es ist die alte Aussage der frühen Christenheit, die den Timaios Platos "christianisierte": 
Und Gott sah, daß alles gut war.


Augustinus sagt in De civitate Dei, Über den Gottesstaat, Kapitel 21 ENDE: 

Weil es uns hochnötig war, dreierlei über das [von Gott] Geschaffene zur Kenntnis zu nehmen, nämlich wer es geschaffen, wodurch er es geschaffen und weshalb hat er es geschaffen, hören wir [von Moses]: 'Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war.' Fragen wir also, wer es geschaffen hat, lautet die Antwort: 'Gott', fragen wir, wodurch er's geschaffen, hören wir [von Moses]: 'Er sprach: es werde, und es ward', fragen wir, weshalb, heißt es: 'Weil es gut war.' Kein Urheber erhabener als Gott, keine Kunst wirksamer als Gottes Wort, kein Beweggrund besser, als daß vom guten Gott Gutes geschaffen werde. Auch Plato nennt diesen Beweggrund der Weltschöpfung den einzig wahren, nämlich daß vom guten Gott gute Werke hervorgebracht werden sollten. Vielleicht hat er dies [bei Moses] gelesen, oder es von  anderen, die es [bei Moses] lasen, vernommen, oder er hat selbst mit hellem Geistesauge Gottes unsichtbares Wesen an den Werken der Schöpfung geschaut und erkannt, oder endlich es von denen, die es geschaut, gelernt.
22 ANFANG: 
Diesen Beweggrund jedoch, nämlich daß Gottes Güte Gutes schaffen wollte, diesen, sage ich, ebenso gerechten wie zureichenden Beweggrund, der, sorgfältig betrachtet und fromm erwogen, alle Streifragen über den Ursprung der Welt erledigt, haben einige Häretiker nicht eingesehen.


Es ist dieselbe Ontologie, die Mars  und Saturn gut sein läßt: 

Was er [Gott] geschaffen hat, ist gut, weil es von ihm stammt, doch auch wandelbar, weil es nicht aus ihm, sondern aus nichts erschaffen ist. 
Civitate 12,1. 
Selbst die Natur, an der sich "die Verfehlung" Adams auswirkt, ist etwas Gutes (Civitate 12,3), denn diese Geschöpfe haben auf den Wink des Schöpfers die Bestimmung empfangen, kommend und gehend die niedere Schönheit des Weltenlaufs darzustellen
- infimam pulchritudinem temporum -, wie sie in ihrer Art den Teilen dieser Welt entspricht. Denn das Irdische sollte nicht dem Himmlischen gleichen, durfte aber dem Weltall deswegen nicht fehlen, weil das Himmlische edler ist
Civitate 12,4. 


Die Stufung des Weltalls durch den 'Ich bin, der ich bin' spiegelt sich auch im typus wieder:

Denn da Gott die höchste Wesenheit ist, das heißt zuhöchst ist und darum auch unwandelbar ist, hat er den Dingen, die er aus nichts erschuf, wohl ein Sein, aber nicht das höchste Sein gegeben, wie er es selbst besitzt. Und zwar verlieh er den einen einen höheren Grad des Seins als den anderen und stufte die Naturen der Wesenheit gegen einander ab. 
Civitate 12,2.


10 Dem Fixsternhimmel kommt die Aufgabe zu, den einzelnen Planeten die Entwicklung ihrer je besonderen Kräfte und Wirksamkeiten zu vermitteln: 
  • coelum stellatum specificas virtutes elaborandas tradit.
Philipp Melanchton schreibt im Vorwort zum Tetrabiblos des Ptolemäus
Und es ist diese Übereinstimmung des Oberen und des Unteren selbst wiederum ein Zeugnis Gottes, und ein Beweis für die Vorauserkenntnis (... welche die Astrologie ermöglicht).
Dieser Auffassung z.B. widerspricht Paracelsus, indem er den Fixsternen die astrologische Bedeutungslosigkeit "unfruchtbarer Weiber" beilegt, die höchstens unter dem Einfluß der Planeten erregt und geschwängert werden - eine Auffassung, die sich der junge Tycho Brahe in seiner Inauguralvorlesung oratio1574zu Eigen machte. (Opera I, 144-173, vgl. Thoren 82; im übrigen lehrt Tycho die Astrologie des ptolemäischen Vierbuches.)