6.3 Meditationes de mundi creatione
oder 
cosmopoeia & opiniones Christiano dignae 


Die Meditationen, d.s. die Kosmographischen Gedanken: Cosmographicae meditationes de fabrica mundi, zerfallen in die beiden Bücher 
I.I  = Prolegomenon fabricae mundi = Einführung in die Beschaffenheit der Welt
und
I.II = Fabricae mundi = Über die Beschaffenheit der Welt
Obgleich beide Titel rein cosmopoeietische Untersuchungen anzeigen, halten die Ausführungen nicht, was ihre Überschriften versprechen: 
Die Kosmographischen Gedanken über die Erschaffung der Welt - kurz: die Meditationen - stellen sich uns im Folgenden als ein mixtum compositum von Analysen und Interpretationen des göttlichen SiebenTageWerkes (= Gerhard Mercators cosmopoeia = Hexaémeron) und fundamentaltheologischen wie christologischen Ausführungen - opiniones Christiano dignae - dar; denn
  • einerseits enthalten die Meditationen die Ausarbeitung der kosmotheologischen Gedanken Gerhard Mercators
    • d.i. die extensive Aufbereitung seiner 1559ff in der Lateinschule Duisburgs vorgetragene cosmopoeia = de mundi genesin ,
    • d.i. aber auch eine vertiefte Darstellung seiner Kosmotheologie von 1573, wie er sie uns im 1.Vivianus-Brief hinterlassen hat ,
  • andererseits legt er uns in den Meditationen seine fundamentaltheologischen sowie seine vorsehungs- und erlösungstheologischen Gedanken im Anschluß an den hl. Paulus dar: d.h.

  • er äußert sich in den Meditationen zu den Theologischen Loci De sancta Trinitate, De providentia und De redemptione - einer Dreiheit theologischer Probleme, die ihn von jugendauf in unterschiedlichem Umfange beschäftigt haben. Mit einer Behandlung des locus De redemptione finden seine Meditationen ihren Abschluß (I.II.19).
Insgesamt lassen sich die Meditationen als das herausstellen, was Erasmus von Rotterdam als "Meinungen - eines Christen würdig -" als Teil einer umfassenden "Philosophie Christi" bezeichnet hat:
 
Wir finden in ihnen 
sowohl - an geeigneter Stelle - eigentlich-kosmographische =             cosmopoeietische Äußerungen 
als auch - an geeigneter Stelle - providential-, redemptorisch-  wie fundamentaltheologische Aussagen des Christen Gerhard Mercator.
Mögen etliche seiner theologischen Äußerungen der Inquisition des 16./17.Jahrhunderts zu tilgen würdig erschienen sein: Der Selbständigkeit einer theologischen Ansätze sollten wir auch heute noch unsere Achtung nicht versagen, - selbst wenn sie nur einer Übergangszeit im Wissen, in den Wissenschaften und ihren Methoden zuzuschreiben sind. 
  • Um es hier nur auf einen Punkt zu bringen: Nicht nur Divus Thomas konnte es in seiner Theologischen Summe formulieren, auch aus dem Pontificum Institutum Internationale "Angelicum" heraus beanstandete noch 1944 niemand den Satz "Probabilius creati sunt [Angeli] in caelo empyreo". 
Die Struktur des ersten Buches der Mercatorsche "Kosmographie" - aufgeteilt in I.I= "Vorwort" und I.II = "Haupteil" - macht schon in und mit I.I deutlich, daß in ihm kein schlichtes Hexaémeron, keine einfache enarratio, Aufzählung, Erläuterung, eingehende Texterklärung oder dgl. vorliegt. Wie mit Pico della Mirandolas Heptaplus de septiformi [in sieben Kapiteln] sex dierum Geneseos enarratione liegt in den Meditationen eher ein auslegendes Kommentarwerk vor, das den Text Gen 1.1-31, 2.1-3 zwar immer wieder heranzieht, aber mehr sagen will, als im Text des Moses enthalten ist: 
"Dies nämlich beabsichtigen wir, indem wir über die Kosmographie berichten, damit aus aus der wunderbaren Harmonie aller Dinge auf das eine Ziel Gottes hin und aus der unerforschlichen Vorausschau im Aufbau die unendliche Weisheit Gottes und seine unerschöpfliche Güte begriffen werden können, damit wir zu seiner verehrungswürdigen Majestät, seiner anbetungswürdigen, hochzuschätzenden reichen Güte auf ewig erhoben werden."
Schon hier (I.I.1) ist - von der Mercatorforschung der letzten 130 Jahre im wesentlichen unbeachtet - der Bogen angesetzt, der bis in die Kapitel I.II.17-19 hineinreicht und die theologische Konzeption Gerhard Mercators - zumindest - in seinen Kosmographischen Gedanken ausmacht: 
praescientia (Vorherwissen) und providentia (Vorhersehung) des DreiEinenGottes - auf der Folie der neuplatonischen Gotteslehre (I.I.2) in I.I.3 porträtiert - reichen vom IM ANFANG der Schöpfung bis zur Inkarnation des Gottessohnes und seines Erlösungswerkes (redemptio) mit dem Verweis auf die kommende Wiedergeburt der ächzenden und stöhnenden in Adam gefallenen Schöpfung (Paulus) in die letzten Kapitel hinein.
Anders als bei Pico
Heptaplus III.7: Die Menschwerdung ist schon immer auf die Menschwerdung des Gottessohnes hingeordnet gewesen. Und Christus mußte, um den seit der Schöpfung im Menschen verborgen liegenden Wesenszug, sich über die Engel zu erheben, einzulösen, notwendig Mensch werden. (Vgl.H.Reinhardt: Freiheit zu Gott, Weinheim 1989.)
entgeht Gerhard Mercator einerseits der 'Überheblichkeit', in der Erlösung durch den Gottessohn den Menschen über die Engel hinauszuheben, was Pico dem (Subordinatianismus-)Verdacht aussetzt, die Inkarnation - die Menschwerdung Gottes - der Schöpfung generisch zu subsumieren, unterzuordnen , weil er mit Moses Maimonides, den er mehrfach zitiert und auslegt, nicht den Menschen, sondern die Engel als den Endzweck der Schöpfung anzusehen bereit ist: "non quia homo sit angelus, sed quia angelici sunt mundi finis et terminus". dadurch, daß er 
(a) die unsterbliche Seele des Menschen aus dem 'überhimmlischen Gewässer' erzeugt sein läßt (vgl. meinen Aufsatz über den Traduzianismus [CD] ) - aus dem auch die Engel geschaffen wurden (I.II.9) - , "um darin den Engeln gleich zu sein", und andererseits ist ihm 

(b) die Erschaffung des Menschen - nicht der Engel - die erste, oberste und hauptsächliche Bestimmung der Schöpfung (I.II.17), deren zweite - und insofern der ersten nach- oder untergeordnet - aber 

(c) aus der Vorsehung des Schöpfers herrührt, den von ihm von Ewigkeit her erkannten Sturz des Menschen = Adam in der Menschwerdung seines Sohnes aufzuheben, "damit darin - auf jeden Fall - die erste Schöpfungsbestimmung Erfolg habe: ... Auf Grund seines Vorherwissens (praescientia) vollendete Gott in seiner bewunderungswürdigen Vorsehung (providentia) die Schöpfung aller Dinge derart, daß er dem Menschen - im Stand des Gehorsams ebenso wie in dem des Falles - die Möglichkeit bewahrte, das ewige Leben zu erlangen."


Mehr darüber in den Anmerkungen und Erklärungen zu den einzelnen Meditationen40 (CD).



I.I = Prolegomenon fabricae mundi

In den Einführenden Meditationen- dem prolegomenon fabricae mundi (Buch I.I.1-3) - erklärt Gerhard Mercator nicht nur 

  • die Absicht seiner Kosmographie überhaupt (I.I.1: Intentio totius cosmographiae),

  • über eine Auslegung des Schöpfungswerkes Gottes Ruhm zu vermitteln 
      - er spricht von drei Zielen der Schöpfung: 
      1. Gottes Ruhm zu vermitteln, 
      2. die Erschaffung des Menschen und 
      3. die kunstvolle Erschaffung der Welt im Ganzen.
    Der "obersten und hauptsächlichen Bestimmung der Schöpfung" widmet er das Kapitel I.II.17, das in Gänze von der Inquisition beanstandet wird.
Er eröffnet auch
  • das dogmatische Gespräch - gewissermaßen: contra gentiles - über die Grundlagen der Philosophie Christi mit einer Darstellung der philosophischen Gotteslehre der Schule der (Neu-)Platoniker (I.I.2: De Deo omnium principio et effectore secundum Platonicos), die als Reflex eine Anmerkung - nach Irenäus - zur "albernen" Gnostik des Valentinus enthält,
um in I.I.3Vera de Deo eiusque Trinitate, ex scripturae adytis confessio sofort 
- gewissermaßen auf dem gerade darsgestellten Vor-Entwurf der neuplatonischen Philosophie - 
in einer fundamentaltheologischen Darstellung "ein wahres Bekenntnis" zum DreiEinenGott der Christen abzugeben: "vera de Deo eiusque Trinitate", - wobei die Quellenangabe :"ex scripturae adytis confessio": deutlich macht, daß dieses Bekenntnis nicht von einem "spekulierenden" Heiden - dem völlig un-theologisch in die Kosmographie einführenden Atlas junior - abgegeben werden kann: 
Zum Theologischen Locus De Trinitate vermag sich nur ein des AT und NT "mächtiger", d.h. gläubiger Christ zu äußern:
"Das Wort 'Gott' stellt uns einen in drei Personen unterschiedenen Gott vor ... Daß diese Personen als eine Einheit erscheinen, bedeutet aber nicht, daß sie so eines Wesens sind, wie der Mensch eines Wesens mit Menschen ist. Die göttlichen Personen sind der Zahl nach eines Wesens, untrennbar voneinander... Das ganze verborgene Wesen des Vaters - das gleichsam durch das ewige Entstehen in den Logos hinausstrahlt [ein Bild, das Gerhard Mercator von Basilius von Caesarea übernommen hat], so daß der Logos das leuchtende Gespräge und das ausgedrückte Wesen des Vaters in derselben Wesenheit ist - leuchtet vom Vater durch den Logos in die ganze Welt. Dieser Glanz erscheint als der Heilige Geist ... In den Vater legen wir gleichsam den realen Keim, in den Sohn die vegetative Kraft und in den Heiligen Geist die hervorbringende und ermutigende kraft, die - mit dem Sohn aus dem Vater hervorgehend und durch den Sohn herausgeströmt - ins Werk fortschreitet."

Von der trinitarischen Struktur des Schöpfers und seines Schöpfungswerkes handeln I.II.2-4.


I.II = Fabricae mundi

I.II.1De sapientia Creatoris enthält vier unterschiedliche Gedankengänge:

(1) Im Anschluß an den Psalm 104,24 ist von der Weisheit Gottes die Rede: Es ist die Weisheit Gottes, aus der sich alles IM ANFANG | AUS DEM ANFANG herleitet. Es gibt daher für einen, der sich durch eine Darstellung des Schöpfungsganzen - eine Kosmographie - auszeichnen will, nichts besseres, als das Werk - von Moses unter der Eingebung des Heiligen Geistes aufgeschrieben - zu erforschen und mit allen Kräften des Geistes zu ergründen.

(2) Diese Erforschung hat sich im wesentlichen auf die aus dem IM ANFANG herrührenden Relationen von Ursachen und Wirkungen einzulassen. Als - von Aristoteles schon in seiner Physik begründeten - Grundsätze sind dabei festzuhalten:

daß Ursachen gleichartige Wirkungen herbeiführen,
daß alles Schwere abwärts getragen wird,
daß alles Leichte nach oben getragen wird.
Aus den beiden letzten Sätzen ist dabei der - für die kommenden Erklärungen - wichtige Schluß zu ziehen, 
daß das Feinere aus dem Gröberen verdunstet, "woraus hervorgeht, daß sich das Schwere im Mittelpunkt [des Geschaffenen] sammelt."
Weiterhin ist davon auszugehen:
daß die Welt kugelförmig ist
- eine Ableitung der Kugelförmigkeit des Weltlalls finden wir in der Meditation I.II.3 = Das Chaos ... - ,
daß alle Teile der Welt nach Feinheits- und Vortrefflichkeitsgraden geordnet sind.
Darüberhinaus gilt es, die Wunderwerke der himmlischen Körper, ihre Lage und Natur offenzulegen, die bis jetzt weder hinreichend erforscht noch untersucht worden sind: "sic mira pandantur in caelestium corporum situ & natura, quae hactenus non satis inquisita nec explorata fuerunt"

(3) daher vermißt Gerhard Mercator noch vieles in den Grundlehren der gegenwärtigen Wissenschaft: z.B.

eine adäquate Theorie über Ebbe und Flut 

sichere Vorstellungen über die bewunderungswürdigen Meeresströmungen, insbesonders aber hinreichende Kenntnisse über ihre Ursachen,

ausführliche(re) Untersuchungen über die Kunst des Navigierens

- die frühen Untersuchungen seines Freundes John Dee darüber sind ihm wohl nie bekannt geworden -
es gebricht an einer Vollendung der Geographie: es fehlen gute Landkarten, "den mit Augen versehenen Zeugen ganzer Herrschaftsverhältnisse und Länder".
(4) Dieser fehlende Abschluß der Geographie - als Kartierung des Erdenrunds -  veranlaßt Gerhard Mercator zu den I.II.1 abschließenden Bemerkungen : 
  • "Vor einigen Jahren habe ich dieses Werk [die Neuere Geographie] mit denjenigen Gebieten begonnen, nach denen ... großes Verlangen [bestand und noch] besteht, [das waren (!1585) | das sind die Karten von Frankreich, Belgien (die Niederlande) und Deutschland] ego ante annos aliquot huius operis initium feci ..." 
Daraus ziehe ich noch heute - wie 1993 - den Schluß, daß I.II.1 nach 1585 geschrieben worden ist.
Genauer:
Indem er schreibt: "ich lege jetzt (?Juni 1593) von diesem Werk [der Neueren Geographie in Mercators Sinne] ... die nördlichen und sarmatischen Landkarten vor", ist festgestellt, daß I.II.1 erst kurz nach Abschluß der dritten Teillieferung geschrieben worden ist. Der Öffentlichkeit zugänglich wurde es erst ein halbes Jahr nach Gerhard Mercators Dahinscheiden im Dezember 1594: "quibus nunc Septentrionalium ac Sarmaticarum tabularum primum nostrae Geographiae tomum propono ..."
Festzuhalten aber ist auch: 
  • In beiden Fällen spricht der Autor (der Auctor=der Urheber des Kartenwerkes) selbst, nicht ein vortragender "Stellvertreter".