6.2 Über die kosmotheologischen und kosmoontologischen Vorstellungen Gerhard Mercators berichtet der 1.Vivianus-Brief, der die Gedanken der narratio in das allgemeine Denken seiner Zeit einbettet.

Im zweiten Brief an Vivianus, der sich damals in Aachen aufhielt, schreibt Gerhard Mercator:

Cum Deo volente primum tomum Cosmographiae sum aediturus,
Mit Gottes Hilfe gehe ich jetzt daran, den ersten Band der Kosmographie herauszugeben.
in quo Atlantem de Fabrica mundi, de Astronomia, de Astromantia, de Elementis, deque mundi Geographia speculantem sum inducturus.
Das ist der Band, in welchen ich Atlas [als denjenigen] einzuführen gedenke, der über die Erschaffung der Welt, über die Astronomie, über die Astromantie, über die Elemente und über die Geographie des Erdballs philosphiert (= forscht).
Neu - für unsere Überlegungen - ist an den Ankündigungen des Briefes zweierlei:
  1. er will in der nächsten Zeit den ersten Band der Kosmographie herausbringen, obwohl von diesem Band I nur das Buch 1 - liber 1 - abgeschlossen vorliegt;
  2. er denkt daran, Atlas (junior - wie die Praefatio ausweist ) als Vortragenden der ?fünf  kosmographischen Bücher - oder ?beider Teile - einzubringen.
Da das erste Buch zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen vorlag, konnte es - wer auch immer aus der Familie es getan haben mag - abgeschrieben und Dr.Solenander zur kritischen Durchsicht übergeben werden, - ob dieser es dabei nach einem Patientenbesuch mitgenommen hat, oder ob es ihm nach Düsseldorf geschickt worden ist, muß wohl dahin gestellt bleiben (ist aber auch ohne Belang).
Ein Teil des kommentierenden Briefes von Reinhard Solenander - datiert vom 1. Juli 1594 - hat dann wortwörtlich Eingang in das Kapitel 13 der Meditationen gefunden: Da Solenander sich offenbar in der Darstellung wiedergefunden hat, ergänzt er Mercators Aussagen um die von ihm offenbar vorgetragenen, aber von Mercator nicht wiederholten Gedanken.
Ich denke, Vivianus II macht einerseits unmißverständlich klar, daß ihm der Abschluß von tomus I liber I (Kosmographische Gedanken, im folgenden stets - unverfänglicher - als 'Meditationen' apostrophiert) - damals natürlich noch ohne Solenander-Text - voraufliegt:
quorum mundi Fabrica tantum absoluta hactenus est
davon [von den fünf Büchern] ist bislang nur die Erschaffung der Welt [Buch 1] fertig gestellt
Andererseits stellt das erstmalige Auftreten eines "Erzählers" namens 'Atlas' uns vor einige Probleme:
Warum spricht Gerhard MercatorVivianus gegenüber nicht sofort vom mauretanischen Atlas, von Atlas junior?
Konnte er doch mit Gewißheit erwarten, daß Vivianus - wie das Zeitalter - bei der Erwähnung des Namens 'Atlas' an den Titanensohn der Göttergeschichte denken werde. Den Titanensohn konnte er aber nach seinen Untersuchungen - niedergelegt in der Praefatio - keineswegs als Erzähler in seine Kosmographie einführen. Einem Titanen nachzueifern, das wäre nicht seine Sache gewesen.
Fehlt ihm im Zustand seiner schon drei Jahre andauernden körperlich-geistigen Betroffenheit das gehörige - erforderliche - Maß der Erinnerung?
Oder heißt 'den Atlas als Vortragenden' einzuführen, sich womöglich zu erwartender (theologischer) Kritik - wenigstens hinsichtlich des vollendeten I liber I  - zu entziehen?
Tritt ein Autor hinter den Vortragenden zurück, mag ihn jedwede Kritik nur indirekt treffen: Es ist ja der Heide Atlas junior, der Ansichten, Genesis-interpretierende Gedanken äußert, - darf er | mag er doch irren, da er die Philosophie Christi wohl nicht ganz verstanden hat.
Andererseits - vgl. MILZ98,16f. - : wie sollte ein heidnischer Gelehrter mosaischer bzw. vor-mosaischer Zeit Moses et aliter geoffenbarte Wahrheiten des AT wie des NT unter trinitarischen wie christologischen als auch dogmatischen Aspekten auszulegen in der Lage sein?
Es verweist dies alles darauf, daß die kommende Kosmographie - in ihrem umfassenden mercatorschen Sinne - zwar begründet einen Titelhelden brauchte, wohl aber keinen Vortragenden.

Was den Zeitpunkt des 2.Briefes anbetrifft:

Ich halte es für außerordentlich unwahrscheinlich, daß die Praefatio von Mercator nach dem 4. Juni 1593 geschrieben worden ist. Denn das hieße nichts anderes, als daß (?erst) im Brief an Vivianusdie | eine Idee 'Atlas' aufleuchtete, die in der Praefatio (?danach) realisiert | ausgestaltet worden ist, - gewissermaßen "Gestalt" angenommen hat.
Dafür bietet der Inhalt der Praefatio eigentlich keine Anhaltspunkte: Was Mercator in der Praefatio vorträgt | vorlegt, sind mühsam und über Jahre aufbereitete Inhalte (nachweislich zu einem großen Teil Exzerpte) aus Geschichtsbüchern, deren Sammlung und Ver-Sammlung einem - schon vor langer Zeit gefaßten - Gedanken unterworfen waren (!perfektisch). Es war also höchst wahrscheinlich genau umgekehrt: die Briefaussage folgte zeitlich der Abfassung der Praefatio.
Zudem:
Zum Zeitpunkt der Abfassung des 2.Vivianus-Briefes lagen die Meditationen - bis auf die Redaktion der Äußerungen Solenanders -  als opiniones Christiano dignae abgeschlossen vor. Wie hätte Gerhard Mercator nunmehr erst daran gehen | daran denken können, Atlas junior als Vortragenden seiner theologischen Konzepte einzuführen (!futurisch) ?
Der in Kürze anstehende zweite Gehirnschlag hätte gewiß alles vereitelt, die Abfassung der Praefatio einerseits, andererseits aber recht die Ausarbeitung einer neuen literarischen Form, die einer vollständigen Umschreibung der (vorliegenden) Meditationen gleichgekommen wäre.
Rumold oder Johannes wären - bei aller Wertschätzung ihrer Arbeit für den Vater bzw. den Großvater - mit der Ausfertigung der Praefatio überfordert gewesen.
Schließlich:
Die Praefatio ist keine Einleitung, kein Vorwort, das ein Autor nach getaner Arbeit schreibt:
Gerhard Mercators Praefatioist die Ableitung | Begründung der Geisteshaltung, die aller ernsthaften Arbeit an seinem (kommenden) theologisch-philosophisch-kosmographischen Werk voraufliegen wird:

Diesen Atlas [junior], ausgezeichnet durch Erziehung, Menschlichkeit und Weisheit, habe ich mir zum Vorbild genommen. Und sofern mein Talent und meine Kräfte dazu ausreichen, so will ich die Kosmographie fortan gleichsam von einem erhabenen Standpunkt des Geistes betrachten ... (!contemplaturus).
Auf diesen Satz spitzt sich die ganze die historische Ableitung zu: Hier ist die Geisteshaltung dargestellt, aus der Zukünftiges - nicht Vergangenes - aus der Kraft der Gesinnung Gerhard Mercators hervorgehen soll: eine kommende Kosmographie.

Und was Atlas junior anbetrifft: Von einem Vor-Bild ist die Rede, nicht von einem Vor-Tragenden.