3.2Darstellungen

Mehrfach unterschieden also tritt uns Atlas in der sagenumwobenen Geschichte entgegen:

Als Titanide tritt Atlas im Altertum wie in der Renaissance als mythologische Figur in den Raum der Kosmographie - der Erdkunde (geographia/cosmographia) wie der Sternenkunde (astronomia/astrologia) ein.
Ebenso tritt Atla(n)s in den mittelalterlichen kirchlichen Raum ein. So findet man z.B. den Titanen Atla(n)s in ein romanisches Figuren-Halb-Kapitell im geschlossenen südlichen Kreuzgang des Klosters Ebstorf (13./14.Jh.)  eingearbeitet,
 
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- numehr weder den Himmel noch die Erde, sondern die Last eines Kreuzbogens mit seinen Händen auffangend. Atlas vertritt im Kirchenraum - als mythologische Figur - entweder den sündigen Menschen,  der unter Ächzen und Stöhnen für seine Sünden büßt oder auch die ganze noch unerlöste heidnische Welt.

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Die antike Plastik Atlas Farnese (Neapel) trägt den Himmelsglobus des Hipparchos.
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Das älteste Kunstdenkmal (etwa 200 v.Chr.) zum Atlas-Mythos scheint - bis heute - im Farnese-Atlas aus Neapel11 vorzuliegen. Aber schon in einem antiken Spiegel - Herakles und Atlas nach Euripides' Herakles darstellend - und dann überall, wo vom Titanen-Mythos des himmeltragenden Atlas die Rede ist, trifft man ihn:
Unter mächtigem Zwang trägt Atlas den riesigen Himmel
Fern an den Grenzen der Welt bei singenden Hesperiden
Aufrecht; er stützt ihn mit dem Haupt und nie ermüdenden Armen.
Dieses Schicksal nämlich beschied ihm Zeus der Berater."
 
THEOGONIE 517
Euripides singt im Herakles V 403ff:
"Unter des Himmels Sitz
Mitten die Arme gedrückt
Zu Atlas' Haus gekommen
Und hielt der Götter
Sternäugige Wohnung mit Manneskraft."
Atlas senior und sein Bruder Prometheus (51 kB)

Und Herodot erzählt im IV.Buch seiner Historien 184/185 vom atlantischen Gebirge und seinen Bewohner:

"... Nach weiteren zehn Tagereisen findet man einen neuen Salzhügel und eine Quelle, um die ebenfalls Menschen wohnen. An dieses Salzgebiet grenzt ein Gebirge mit dem Namen 'Atlas'. Es ist schmal und ganz kreisförmig und soll so hoch sein, daß man seine Gipfel gar nicht sehen kann. Niemals weichen die Wolken von ihnen, weder im Sommer noch im Winter. Die Einheimischen sagen, dieses Gebirge sei die Säule des Himmels. Nach diesem Gebirge werden auch die Menschen benannt; sie heißen nämlich 'Atlanteer'. Man erzählt, sie äßen keine lebenden Wesen und hätten keine Träume. Bis zu diesen Atlanteern kann ich die Namen der Stämme nennen, die auf dem Höhenzug wohnen, darüber hinaus nicht mehr. Diese Hügelkette reicht bis zu den Säulen des Herakles, ja noch weiter hinaus."
In den auf uns gekommenen Kunstdenkmälern finden wir sowohl den Titanen, der unter der Himmelslast des Zeus stöhnt und ächzt, wie auch den, der mit euripideischem Stolz den Himmel trägt. Ein solcher - euripideischer - ist offenbar der Farnese-Atlas, der die Himmelskugel des Hipparchos trägt:
 
Am Atlas-Farnese - genauer an Fotografien nach einem Gipsabdruck - sind von Thiele Vermessungen11 angestellt worden, die einen Zusammenhang zwischen der Sphäre des Aratos und der Sphäre seines Kritikers Hipparchos herstellen ließen.
Uns interessiert hier nur die Dastellung des Titanen, der mit stolzer Manneskraft das Himmelsgewölbe, die Sphäre (sjaira) des Hipparchos trägt. In der Manilius-Ausgabe von Bentley, 1739, finden wir eine plane Darstellung der Sphäre in Kupfer:
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So wie z.B. Joachim Rheticus in humanistisch hochlobender Weise z.B. den Gemma Frisius als einen "alter Copernicus" - einen zweiten Copernicus - rühmte, oder Abraham Ortelius später Gerhard Mercator als "den Ptolemäus des Jahrhunderts" auslobte, so sparte Erasmus Reinhold 1551 in seinen "Preußischen Tafeln" nicht doppelten Ruhm und doppelte Auszeichnung für Copernicus aus, als er davon sprach, daß "diesem Manne wohl der Name eines Ptolemäus oder gar eines Atlas beigelegt werden könne".

In diesen Preußischen Tafeln könnte Gerhard Mercator, der ein Exemplar des Jahres 1551 sein Eigen nannte, zum ersten Mal auf den auszeichnenden Namen 'Atlas' gestoßen sein. Daß Reinhold gewiß an den Titanen - Atlas senior - gedacht hat, ändert nichts daran, daß Gerhard Mercator schließlich in den nächtlichen Stunden seines Studiums der historischen Literatur - von denen Rumold Mercator und Walter Ghim berichten - bei Eusebius Pamphylus / Diodor  seinen Atlas finden konnte.

Als Titanen hat er ihn 1570ff womöglich auch auf dem Titelblatt des Antonio Lafreri (1512-1577) gefunden, der bis 1570 Landkarten sammelte und zu einem Konvolut zusammenband. Aber Lafreris Titel-Atlas trägt nicht den Himmel, er hält auch nicht die Spindel des Weltalls, um damit die Erde in Ruhe zu halten, ihn zwingt die Last der geschulterten Erde in die Kniee - titelt er doch eine Sammlung von Erd- und Länderkarten.
 

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Schaut man sich das Titelbild des Lafreri-Konvoluts im Ganzen an, so scheint es so zu sein - wie es mehrfach schon in der Weltkarte von 1569 an gespiegelten Vorlagen zu beobachten - daß Gerhard Mercator die Vorlage des Lafreri  - in Teilen gespiegelt - benutzt hat: zwar nicht beim Atlas, wohl aber bei den klassischen Oikumene-Kartographen Marinus und Ptolemäus
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Beide Figuren verweisen auf die Kenntnis des Lafreri-Konvoluts durch Gerhard Mercator: Ptolemäus und Marinos titeln die erste Ptolemäus-Ausgabe von 1578 bzw. den Atlantis Pars Altera des Kartenkonvoluts von 1595 genauso wie den Kartenkonvolut des Lafreri von 1570. Während Gerhard Mercator die Köpfe spiegelbildlich12 zu den Köpfen im Lafreri-Titel zeichnet - die Ähnlichkeit der Gesichtszüge scheint unverkennbar - , deutet er die Zusammengehörigkeit beider Geographen anders und großartiger als Lafreri:
Im Lafreri-Bild stehen Ptolemäus und Marinus voneinder abgewandt auf Säulenstüpfen: jeder beschäftigt sich mit dem ihn auszeichnenden Handwerkszeug: Ptolemäus mit dem (hier: unhistorischen) Kreuzstab (später Jakobsstab genannt) und dem Zirkel; Marinus mit dem Astrolabium.
  • Wenn Lafreri bekannt gewesen ist, daß Ptolemäus die Darstellung der Oikumene durch Marinus ablehnte, so hat er dieser Ablehnung in seinem Titelblatt sprechend Ausdruck verschafft.
  • Die das Portal zierenden Figuren halten ein Astrolabon bzw. eine Ringsonnenuhr in Händen.
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Bei Gerhard Mercator stehen beide, durch Säulen - die den dreidimensionalen Eindruck beträchtlich verstärken - ein wenig verdeckt, förmlich in einem Dialog miteinander. 

Anstelle des Kreuzstabes hebt Ptolemäus seine Armille (Astrolabon) mit der rechten Hand in die Höhe und mit seinem rechten Zeigefinger weist er auf einen Himmelsglobus, der das Portal krönt; in seiner Linken hält er einen Zirkel und weist mit dem Zeigefinger auf einen Erdglobus, der zu seinen Füßen inmitten weiterer Werkzeuge (Meßscheit, Lot, Zirkel) steht; wie es scheint, macht er auch auf seine Bücher aufmerksam.

Marinus trägt anstelle des Planisphäriums (Arachne) die aufgerollte Plattkarte - für Mercator ist die Plattkarte offenbar das auszeichnende Merkmal des Marinus.

Nur wenig anders fällt das Titelblatt des zweiten Atlas-Teiles von 1595 aus. Der interessierte Leser überzeuge sich selbst: (42 / 43 kB)

Ob Gerhard Mercator das Titelblatt des Lafreri gekannt hat, entzieht sich meiner Kenntnis; die angeführten Punkte sprechen aber dafür. 
Und die bei Mercator angedeutete Tendenz ist bedeutsam: er befreit den Nachkommen des Titanen - Atlas junior - von seiner Herkules-Arbeit und zeigt ihn, wie er die Erdgloben nach der Weise des Eudoxus mit Koordinatenstrukturen versieht:
 



Daß der Titane Atlas (senior) im Denken des Zeitalters mit der Kosmographie / Geographie verbunden gedacht wird, zeigt auch das Albumblatt des Engelhardt  für Abraham Ortelius. Engelhardt folgt dabei der Erzählung im Phaidon, wo der gewisse Atlas verhindert, daß die Erde am Umschwung des Himmels teilnimmt:
 
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Du mögest die Welt tragen, ohne daß du Schuld auf dich genommen hast.