5 AstronomischeQuellen II
5.1 Der Bibliothekskatalog

Zu diesen Konsequenzen neigte Gerhard Mercator gewiß nicht nur, weil er vielleicht die Schrift des Aratos bei Jacob Ziegler kennengelernt hat. Der Bibliothekskatalog von 1604 zeigt unter dem Stichwort Libri Politiores = Vermischtes bzw. Libri mathematici weitere, weitaus wichtigere Quellen des astronomischen Aspekts des typus an.

Mit Sicherheit hat Gerhard Mercator in den - seinen - Büchern
 

Arati Phaenomena. Col.[nia] 1569 31: Katalog
Vitruvij Architectura. 1550. Argentor [Straßburg] 33
Plinij lib.2, naturalis historiae. Venetijs 1502 39
Macrobius .8. Lyon [Chronologiem Lugduni 1542] 41
Capella De nuptiis. Basel 1532 39
Platonis opera. Basel 1539 39
Copernicus De Revolutionibus. Nürnberg 1543 31

die Nachrichten vorgefunden, auf die er z.T. schon bei der Vorbereitung seiner Chronologie von 1569 beim Studium der ägyptischen und chaldäischen Astronomie / Astrologie gestoßen sein muß: die Nachrichten nämlich davon, daß schon die "alten" Ägypter und (jüngeren) Chaldäer zur (besseren!) Erklärung der Merkur- und Venusbewegungen die "Hypothese" aufgestellt haben, daß beide Planeten zentral "an die Sonne gebunden" sind.



5.2 Vitruv

Entscheidende Hinweise hat Gerhard Mercator gewiß der ihm bekannten Archtictura des Vitruv (um 44 v.Chr.) entnommen. 

Als Einleitung zu seinen Vorschriften über den Uhrenbau gibt Vitruv einen kurzen Abriß über den Bau von Sonnenuhren und Gnomonen und behandelt die Grundlagen dazu in dem Kapitel Über das Weltall und die Planeten. Im sechsten Abschnitt des Buches 9,1 heißt es dann: 

Die Sterne des Merkur und der Venus vollführen - die Sonne selbst als Mittelpunkt mit ihren Bahnen umringend - in den Strahlen der Sonne ihre Rückläufigkeiten und ihre Stillstände in den Räumen der Sternbilder. 
Das ist interpretierter Timaios 38c..

Auf die Aegyptiorum vel Chaldaeorum ratio - so wird später Macrobius diese Auffassung apostrophieren - führt Vitruv dagegen seine Worte nicht zurück.



5.3 Plinius

In seiner Naturgeschichte kommt Plinius (23-79) im zweiten Buche, Kap.16 / 17, darauf zu sprechen, daß Venus und Merkur conversas habent absidas, sich im Durchlauf umkehrende Absiden haben. Schon 2,12 hatte er die Worte Platos / Ciceros über die Funktion und Bedeutung der Sonne aufgenommen: 

Die Sonne wird mitten zwischen den Planeten in besonderer Größe und Machtfülle [auf einem Epizykel] herumgeführt. Sie ist der Lenker nicht nur der Zeiten und der Erde, sondern auch der Sterne selbst und des Himmels.


5.4 Chalcidius

Im Kommentar des Chalcidius (vor 325 n.Chr.) zum platonischen Timaios finden wir die - schon Eudoxus / Herakleides / Aratos / Aristarch bekannte - Hypothese der Ägypter und Chaldäer besprochen, ohne daß er sie als solche anführt.

Sie tritt einerseits als mögliche (2.) Erklärung der platonischen Worte von Venus und Merkur als "Begleiter der Sonne" auf und beruht (Nr.108 seines Kommentars) auf der Annahme, daß die drei Epizykeln von Sonne, Merkur und Venus einen gemeinsamen Mittelpunkt haben. Eine Auffassung, die Theon von Smyrna (er "blühte" um das Jahr 117 n.Chr.) früher schon als eine zulässige, die Erscheinungen rettende Hypothese ausgewiesen hatte, die dann aber später von Proklos (412-485; Kommentar zu Timaios 38d) unter Berufung auf den göttlichen Jamblichos - und das heißt: für die
Schule der Platoniker und Eklektiker - verworfen wurde.

Andererseits verknüpft Chalcidius die ihm nicht als "ägyptische oder chaldäische Hypothese" bekannte Epizykelthese mit dem Namen des Astronomen Herakleides von Pontos (388-315) in 110: 

Herakleides von Pontos endlich, der die Kreise von Venus und Sonne [und nur diese] beschrieb, und der beiden Kreisen dasselbe Zentrum als Mittelpunkt gab, zeigte, wie die Venus ein mal über, einmal unter der Sonne steht. Denn er sagt |65D|, daß die Stellungen von Sonne, Mond, Venus und den Planeten - wo immer sie stehen - festgestellt wird durch eine Linie, die von der Mitte der Erde zu den betreffenden Himmelkörpern geht. Es gibt also eine gerade Linie vom Erdmittelpunkt aus, die die Stellung der Sonne zeigt, und ebenso zwei andere - zur Rechten und zur Linken von ihr - , die 50° von ihr abweichen und also in einem Winkel von 100° zueinander stehen, wobei die dem Osten nächste Linie die Stellung der Venus oder des Abendsterns zeigt, wenn er am weitesten von der Sonne entfernt ist und dem Osten nahe kommt am Abend nach dem Untergang der Sonne. Die andere im Westen zeigt die Venus, wenn sie am weitesten nach Westen hin von der Sonne absteht und deswegen Morgenstern genannt wird. Denn es ist klar, daß die Venus dann Abendstern heißt, wenn sie im Osten nach Sonnenuntergang gesehen wird, dann aber Morgenstern heißt, wenn sie vor der Sonne untergeht und wiederum in der Nacht vor ihr aufgeht. 
Ob die Erde auch einen Kreis beschreibt, davon sagt Chalcidius nichts.


5.5  Macrobius

Bei "Macrobius" handelt es sich ohne Zweifel um die von Sebastian Gryphius in Lyon 1542/1550in octavo =.8. gedruckte Zusammenstellung der (beiden) Werke des Macrobius Ambrosius Aurelius Theodosius [Commentariorum] in Somnium Scipionis libri Il. [&] Saturnaliorum libri VII. ex variis ac vetustissimis codicibus recogniti & aucti. Lugduni, apud Seb.Gryphium, 1550.8. 

Macrobius stirbt 422.

In seinem Kommentar in Somnium schreibt Macrobius die Lehre, daß die Planeten Venus und Merkur zentral die Sonne umkreisen, der Astronomie der Ägypter, der Aegyptiorum ratio, zu - in der Geschichte der Hypothese vom gemeinsamen Epizykelzentrum von Sonne, Venus und Merkur als erster nach Chalcidius

Der Kreis, den die Sonne durchläuft [ihr Epizykel], wird vom Kreis des Merkur als tiefer gelegenen umgangen, jenen wiederum schließt der höher gelegene Kreis der Venus ein. 
Hier ist - wenn überhaupt - viel dunkler als beim 50 Jahre jüngeren Capella von den ?gemeinsamen ?konzentrischen Bahnen von Merkur und Venus um die Sonne die Rede.

Die Ausdrucksweise des Macrobius gibt zwei Vermutungen Raum: 

  • einerseits könnte "tiefer-" bzw. "höhergelegen" im Sinne der Timaios-Interpretation des Chalcidius verstanden werden, 
  • andererseits könnte man beides mit Capella als "vor" bzw. "hinter" der Sonne vorkommend zu verstehen suchen. 
Die mit dem vorstehenden Gedanken eigentlich induzierte Ordnung Mond-Venus-Merkur-Sonne
verwirft Macrobius dennoch als unplatonisch: sie gehört dem Gedankengut des Cicero an. Als Neuplatoniker argumentiert er wie sein jüngerer Zeitgenosse Proklos: Plato ist allen in allem überlegen, d.h. seine Worte haben wahre Geltung. Und es ist bedauerlich, daß in der neueren Zeit ?Ptolemäus favorisiert wird.

Macrobius weiß genau um die Differenzen zwischen Plato und Cicero, hält sie aber - typisch für einen Neuplatoniker - nur für scheinbar: 

Es ist die Stellung der Sonne, in quo dissentire a Platone Cicero videri potest
In der "Auflösung" dieses Widerspruchs bemüht er offenbar - ohne sie anzusprechen - Theon von Smyrna und Chalcidius.


5.6 Capella

Wenn Gerhard Mercator dem Hinweis des Copernicus nachgegangen ist, ist er auf das Satyricon und die angesprochene "Enzyklopädie" der Freien Künste des Marianus Mineus Felix Capella (vor dem Jahre 474 n.Chr.) gestoßen. Da er es in seiner Bibliothek hatte: 

Martianus Mineus Felix Capella de nuptiis Philologiae & Mercurij. Idem de septem artibus liberalibus, Basel 1532, Katalog S. 39, 
hat er gewiß auch die Stelle gefunden, an der von der ägyptischen Hypothese ohne sie als solche zu bezeichnen - die Rede ist: 
  • Im sechsten Buche der Freien Künste (de astronomia,  dem achten Buche der Sammlung) findet sich nämlich unter dem - doch insgesamt erstaunlichen - Titel Quod Tellus non sit centrum omnibus planetis, Daß die Erde nicht der Mittelpunkt aller Planetenbahnen ist, die von Copernicus angesprochene Stelle
    • Nam Venus Mercuriusque licet ortus occasusque quotidianos ostendant, tamen eorum circuli Terram omnino non ambiunt, sed circa Solem laxiore ambitu circulantur. Denique circulorum suorum centrum [centron] in Sole constituunt

    • zwar zeigen Venus und Merkur einen tagtäglichen Aufgang und Untergang, doch ihre Kreisbahnen gehen keineswegs um die Erde herum, sie werden vielmehr in weitem Umlauf um die Sonne herumgeführt; ja ihre Kreisbahnen haben sogar ihren Mittelpunkt in der Sonne (8,857). 
Schon der Schlußsatz in 8,854 läßt einleitend nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: 
  • Venus vero ac Mercurius non ambiunt terram

  • Venus und Merkur umkreisen in der Tat nicht die Erde. 
Wenn sie nun aber die Sonne umkreisen, in welcher Ordnung tun sie dies? Capella vertritt im Anschluß an die Äußerungen Ciceros, Philos, Theons und des Chalcidius mit großer Festigkeit die Reihenfolge Mond-Venus-Merkur-Sonne
  • Sed cum supra Solem sunt, propinquior est terris Mercurius, cum intra Solem, Venus utpote quae orbe vastiore diffusioreque curvetur, 

  • denn wenn sie oberhalb der Sonne sind, ist der Merkur der Erde näher, sind sie aber unterhalb der Sonne, dann kreist die Venus - wie nicht anders zu erwarten - auf einem viel weiteren und weitläufigeren Umlauf [als der Merkur].
Wenn Capella als Nicht-Astronom und Nicht-Mathematiker seine Vorlagen (Plinius, Chalcidius einerseits, Theon, Kleomedes (um Christi Geburt) andererseits) ohne (astronomische) Vorbehalte auszieht, so ist das verständlich - und verzeihlich. Wenn er 8,882 einerseits zutreffend sagt: 
  • At Venus ... L momentis a Solis orbe discendens

  • und die Venus entfernt sich von der Sonne [höchstens] um 50°, 
so gibt er die maximale Elongation der Venus nach oben genauso gut wie Chalcidius (70, 110) an: in einer synodischen Venusperiode mit maximaler Abweitung von 48° kann die maximale Abweichung der wahren Sonne zur anderen Seite von der mittleren 2° betragen: 48°+2°=50°. 

Schreibt er dagegen von der Venus 

  • licet plus a XLVI partibus aberrare non valeat: 
befindet sich bei maximaler Abweitung der Venus die wahre Sonne auf derselben Seite, so folgt: 48°-2° = 46° - mehr abzuweichen davon  ist ihr nicht gestattet

Wenn er dagegen vom Stilbon=Merkur (8,881) sagt: 

  • Ab eo quippe Solis lumine intra XX momenta abesse non poterit, 

  • der Merkur ... wird freilich vom Licht der Sonne nie unter 20° entfernt sein,
so verwechselt er den Sinn von "mindestens" und "höchstens": der Merkur entfernt sich höchstens um 20° [bzw. 22°] von der Sonne.

Viel wichtiger aber als dieses fehlgehende Detail wird für Gerhard Mercator die Berufung des Copernicus auf Capella und quidam alij Latinorum - gewisse andere Lateiner - überhaupt gewesen sein. Daß er die weitergehende Konsequenz des Copernicus ablehnte: Macht man davon [von der Capella-These] Gebrauch und bezieht Saturn, Jupiter und Mars auf denselben Mittelpunkt [die Sonne]..., geht auf das Konto seiner Schöpfungs-Ontologie.



5.7 Conches

Auf die oben zitierte Stelle bei Vitruv scheint sich auch Wilhelm von Conches (1080-1154)  in seinen Timaios-Studien zu beziehen:

  • ... dicunt igitur quiddam solem esse attractivae naturae. Si igitur illae praecedant solem, si propinquae sunt, attrahit eas ad se; si autem remotae, saltem cogit eas stare, donec transierit: quod ostendunt per similitudinem adamantis et ferri. Migne PL 90, 1146. 

  • Die irgendwie attraktive Natur der Sonne, die in den Bewegungen des Merkur und der Venus in Bezug auf die Sonne erkannt wird, ist der des Magneten in seiner Beziehung zum Eisen zu vergleichen: Wenn Venus und Merkur die Sonne überholen und ihr nahe sind, so zieht die Sonne sie beide an; wenn sie aber weiter fort sind, so zwingt die Sonne sie - im Gegenteil - stehen zu bleiben, bis sie an beiden (wieder) vorbei ist.