3 Die Editionsfehler

3.1 Am 15.Februar 1908schrieb A.Tihon dem seinerzeit wohl bekanntesten Mercator-Forscher Fernand van Ortroy einen Brief, in dem er ihm Einzelheiten über den Fund des (ersten) Mercator-Vivianus-Briefes mitteilte. 

Da er dem Briefe auch eine handschriftliche Skizze des typus universitatis beigefügte, die sich von der im Bulletin-Aufsatz S.138 veröffentlichten Lithographie in doch bezeichnenden - wenn nicht entscheidenden - Punkten unterschied, setzte er eine Reihe vom Ungereimtheiten bezüglich des typus in die Welt, die bis heute noch nie korrekt angesprochen worden sind.

Tihon fertigte die Skizze für Ortroy auf kariertem Papier an. 

Schon ein flüchtiger Vergleich der HANDSCHRIFT mit der LITHOGRAPHIE bringt die Unterschiede zum Vorschein. 
Wie diese Unterschiede zustande gekommen sind, bleibt unerfindlich; nur Tihon oder Ortroy hätten frühzeitig auf die Differenzen aufmerksam machen können: bei beiden aber finden sich keine Anzeichen dafür. Da Heinrich Averdunk die HANDSCHRIFT nicht kannte, konnte er nur auf auf einen Lesefehler Tihons aufmerksam machen. 

Wir wollen davon ausgehen, daß die HANDSCHRIFT dem leider verloren gegangenen ORIGINAL noch am ehesten entspricht. Die Gründe dafür ergeben sich weiter unten.
.


Betrachten wir die Unterschiede bzw. Fehler etwas genauer. 

Der typus im Bulletin unterscheidet sich von dem der Handschrift in vier Punkten, die wir durch Kreise lokalisiert haben.

Sforge   |  Spiritus   |    Virrificatio   |    Merkur / activitas

Fettgedrucktes verweist auf Unterschiedliches: Rotes annotiert Fehlerhaftes.

Sforge    | Spiritus    | Vivificatio    |   Merkus / activitas


3.2 Lösen wir die Fehler auf:
  • Schon Averdunk machte darauf aufmerksam, daß sich Tihon bei dem Wort virrificatio wohl verlesen habe: er änderte es - ohne (selbstverständlich) die handschriftliche Skizze Tihons zu kennen - kommentarlos ab: vivificatio; er ließ den Fehler der Lithographie (seine Tafel XX) - ohne ihre Identität mit der Lithographie aus Tihons Bulletin-Veröffentlichung anzuführen - unerwähnt und berichtigte ihn auch nicht. R.Vermij änderte 1994 nach virificatio ab. 

  • Für Averdunks Vorschlag sprechen die Kosmographischen Gedanken, in denen Gerhard Mercator in seiner Explikation der Philosophie der Platoniker davon spricht, daß die Anima mundi |die Weltseele oder der Dritte Gott & vita viuificans inferiora  (I.2 Anima).
    Und so stellt Gerhard Mercator in seinem Welt-Schema geistesgeschichtlich korrekt / richtig die Sonne mit ihrer alles-belebenden Funktion = vivificatio zusammen. 
    Das Wort selbst mag er bei Tertullian in der Streitschrift gegen Marcion 5, 9  gefunden haben.
  • Des weiteren äußerte Averdunk die Vermutung, daß es sich bei dem Wort sforge (vermutlich auch im Brief) um einen Lesefehler handle: er machte ein Ersatzwort aber nicht plausibel. R.Vermij änderte 1994 - ohne weiteres - nach storge ab: Ohne Zweifel läßt sich in der Tat aus der Herkunft der typus-Merkmale das Wort storge (storgh) ableiten.

  • Ohne Zweifel: Tihon hat sich verlesen und hätte den Buchstaben f als t auflösen müssen, denn sforge ist tatsächlich als storge = storgh  = griech. poetisch: Liebe zu lesen: Die mens  im Sinne Gerhard Mercators - regiert von Mars, Jupiter und Saturn - ist der mens des hl. Augustinus wie dem  WeltGeist (MENS) derKabbala  - nachempfunden: 
     
    Die Trias des hl. Augustinus von memoria (Gedächtnis, Bewußtsein), intellectus (Verstand) und voluntas (Wille) findet bei Gerhard Mercator in der Einheit von Liebe zum Guten (storgh) = Wollen, Fühlen (affectus) und Denken (ratio) im typus ihre Entsprechung. 
    Der voluntas sind bei Augustinus die dilectio und der amor zugeordnet. In seiner Lehre vom Bewußsein, der conscientia, De trinitate 15,22,42; 9,4,4, sagt der hl. Augustinus ausdrücklich 
    Ego per omnia tria illa memini, ego intelligo. ego diligo, qui nec memoria sum, nec intelligentia, nec dilectio, sed haec habeo.
    Dem WeltGeist der Kabbala aber, der MENS, sind SPIRITUS und ANIMA beizuordnen.
  • Erstaunlich ist, daß die HANDSCHRIFT den Merkur korrekt in den sonnennäheren Kreisring setzt, die LITHOGRAPHIE nicht. 
     

    Lithographie

    Handschrift
    Die HANDSCHRIFT erwähnt auch das in der ersten Planetensphäre dem Mond zugeordnete Kabbala-Symbolwort / Merkmal Spiritus nicht, die LITHOGRAPHIE ordnet es zutreffend dem Mond, d.h. genauer: seiner Sphäre zu.

    Diese Fehler verdanken wir offenbar allein der Unaufmerksamkeit Tihons. Ihm ist der diesbezügliche Unterschied zwischen der Lithographie und seinem Ortroy-Brief schlicht und einfach entgangen, denn im Briefe an van Ortroy findet sich das nahezu korrekt (handgezeichnete) Schemabild des typus

      Venus und Merkur laufen auf eigenen konzentrischen Kreisen / in konzentrischen Kugelschalen um die Sonne.
    Bei Gerhard Mercator heißt es: secundus ordo est Solis, Mercurii et Veneris
    In der Lithographie (bei Tihon wie Averdunk) sind die beiden "sonnen-gebundenen" Planeten fälschlich in den gleichen äußeren Wirtel gesetzt.

    Geben wir der HANDSCHRIFT den Vorzug, so hat Gerhard Mercator astronomisch korrekt - Näheres darüber weiter unten - Venus und Merkur in jeweils eigenen, sonnenzentrierten Sphären untergebracht:
    Schon / auch im Planisphärium  des Aratos, wie es uns in den Handschriften des Chalcidius-Kommentars (siehe später) überliefert ist, bewegen sich beide zugleich auf exzentrischen Kreisbahnen um die Erde. 

    Es ist gewiß nicht uninteressant nachzufragen, warum Gerhard Mercator in seinem typus die Planeten in Kreisringen = Wirteln "unterbringt" ?

      Von Kreisringen hat schon Plato im Staat (616d) gesprochen, da er die Sphäre der Fixsterne mit einem  "großen und völlig ausgehöhlten Wirtel" vergleicht, - deren es  für die Planeten insgesamt acht gibt. 
      Die Planeten würden sich dann nicht auf Sphären (lat. orbes) bewegen, sondern in Schalenflächen zwischen zwei Sphären, deren flächenhafte Bilder eben Kreisringe sind. Der Mittelpunkt des (jeweiligen) Epizykels läuft dabei auf dem sogenannten Deferenzkreis um, der exzentrisch in Bezug auf die Erde ist. Und dieses Bild finden wir schon im Breves in Sphaeram 1563,  wo Gerhard Mercator es von ?Peu[e]rbach übernimmt.
      Breves in Sphaeram belegt damit in wünschenswerter Deutlichkeit, daß Copernicus Gerhard Mercator in diesem Punkte jedenfalls nicht beeinflußt hat.
      Erst Tycho Brahe räumt mit dem materiellen Konzept der Schalen (Sphären) auf: Nur die Preisgabe des materiellen Substrats der Gestirnbahnen läßt ihn erklären, warum die Marsbahn folgenlos die Bahn der Sonne zu kreuzen imstande ist.

Tycho Brahe
Die Frage, ob Gerhard Mercator von den Auffassungen der "Philippisten", den Vertretern der Schule Melanchtons, beeinflußt worden ist - z.B. von dessen Schwiegersohn Caspar Peucer - , läßt sich wohl abschlägig bescheiden, da es sich bei den betreffenden Vertretern dieser Schule stets um Astronomen handelt, deren Schemata astronomisch, nicht metaphysisch zu interpretieren sind. 
Auch finden sich die einschlägigen Veröffentlichungen dieser Schule 1568ff. nicht in der Bibliothek Gerhard Mercators und aus dem - bis dato - einzig erhaltenen Brief Gerhard Mercators an Melanchton (1554) lassen sich keine betreffenden Schlüsse ziehen (siehe dort): seine Vorträge in der Lateinschule Duisburgs hätten dann gewiß auch einen frühen Reflex "philippistischer" Gesinnung gezeigt. Ein solcher aber ist aber auch 1563 nicht erkennbar.